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Schülerinnen und Schüler melden sich im Unterricht

Notengebung und Talentfächer

Andreas Jantowski, Direktor des Thüringer Instituts für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM) im Gespräch über Notengebung und die sogenannten Talentfächer.

Herr Jantowski, Thüringen debattiert über Schulnoten in Sport, Kunst und Musik. Ausgangspunkt war die Frage, wie man Kinder wieder in Bewegung bringt und ob die Schulnote dabei hinderlich oder förderlich ist. Was sagen Sie?

Jantowski: Die Debatte um Fächer und um Noten ist ja uralt. Wir führen sie in der Erziehungswissenschaft seit Jahrzehnten. Seitdem es Schule gibt, streiten wir darum: Welche Fächer müssen unterrichtet werden? Welche Fächer sollen unterrichtet werden? Welchen Nutzen bringen sie, auch im Zusammenspiel mit anderen Fächern? Im Kern fragen wir: Wie können wir Leistungen abbilden? Wie können wir Leistungen messen? Und taugt eine Note dazu, den Lernfortschritt abzubilden, den ein Schüler erzielt hat?

Und taugt die Note dazu?

Jantowski: Es gibt viele Studien dazu. In einer von der Universität Freiburg durchgeführten hat man z. B. Mathematiklehrerinnen und Mathematiklehrern zwanzig Leistungskontrollen vorgelegt und sie gebeten, diese Leistungskontrollen zu zensieren. Im Anschluss daran hat man vier Wochen gewartet, damit sich die Lehrer nicht mehr daran erinnern konnten. Und dann hat man diesen zwanzig Lehrern noch mal zwanzig neue Mathematikarbeiten geschickt, aber es waren zwei der alten darunter. Das Ergebnis war: Die gleiche Arbeit erhielt vom selben Lehrer im scheinbar so objektiv zensierten Fach Mathematik zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten bis zu zwei Notengrade weniger. Einmal war es ein Folgefehler, ein anderes Mal nicht. Selbst bei Mathearbeiten machen Lehrer also subjektiv Unterschiede in der Bewertung. Und ich spitze weiter zu: Mit einer Note messen wir auch mit, ob sich die Eltern des Schülers gestern Abend gestritten haben, ob er die Straßenbahn verpasst hat, ob er gut geschlafen hat oder welches Wetter draußen ist. Das heißt, Noten erfassen zu einem Großteil auch Umstände mit, die nicht in der Leistung des Schülers liegen. Zusätzlich gibt es noch die fatale soziale Bezugsnorm: Ein Schüler, der auf einer Schule A eine bestimmte Note erzielt, muss nicht auf der Schule B die gleiche Note erzielen. Denn wenn zum Beispiel ein mittelmäßiger Schüler in eine gute Lerngruppe hineinkommt, wird er automatisch schlechter bewertet. Wenn ein mittelmäßiger Schüler aber in eine schlechte Lerngruppe hineinkommt, wird er automatisch besser bewertet. Und das ist dann alles in allem schon sehr viel Glück und Zufall. Bei der sozialen Bezugsnorm könnte man es dann auch fast auswürfeln.

Dann stellen sich zwei Fragen. Die eine: Brauchen wir überhaupt noch Noten? Und die andere: Wenn wir sie noch brauchen, wie kommen wir dann zu einer fairen Notengebung?

Jantowski: Wir brauchen Noten, weil wir daran gewöhnt sind. Wir alle sind mit Noten aufgewachsen. Und wir vergeben mit Noten Abschlüsse und damit Lebenschancen. Man denke nur an den Numerus clausus im Studium. Solange wir noch keine funktionierenden Alternativen dazu haben, brauchen wir Noten. Und andererseits brauchen wir sie für bestimmte Zwecke eben nicht, vor allem nicht zu Motivationszwecken. Denn ein Kind, das mit einer schlechten Note vor einer Klasse gedemütigt wird, hat gewiss keine Motivation, weiter zu lernen. Noten schätzen die Kompetenz des Schülers unzureichend ein. Was zur Frage der Fairness führt. Ich sage immer:

Noten sind subjektive Urteile auf möglichst objektivierbarer und absolut transparenter Grundlage.

Worauf kommt es also für eine faire Benotung stattdessen an?

Zu einer fairen Notengebung kommt man, indem man die Grundlagen der Notengebung für alle transparent offenlegt. Woran orientiere ich mich? Berücksichtige ich den Prozess der Erstellung der Arbeit? Berücksichtige ich nur das Produkt? Berücksichtige ich auch die Präsentation? Welche Kriterien liegen zugrunde? Berücksichtige ich die persönliche Leistungsentwicklung des Schülers? Die Kriterien, die die Lehrerin oder der Lehrer anlegt, müssen absolut transparent sein. Das ist das Erste. Und das Zweite: Lehrer müssen sich auch über die Fehler, die wir bei der Beurteilung alle machen, bewusstwerden und sich fragen: Wie subjektiv ist meine Notengebung eigentlich? Ein Beispiel: Wir wissen, dass Lehrer nach den Ferien ganz anders bewerten als vor den Ferien. Das hängt mit der Belastungssituation zusammen. Auch Vorinformationen und Vorurteile beeinflussen, wie ich Leistung bewerte. Wir müssen uns also (A) über den Leistungsbegriff verständigen, (B) über die Grundlagen der Leistung, (C) über die Fehler, die wir alle machen. Wir müssen (D) reflektieren, wie wir zu einem gerechteren Notenvergabe-System kommen, und lassen Sie uns (E) die Leistung auch kommunikativ validieren, indem wir sie mit dem Schüler oder der Schülerin besprechen. Beziehen wir also die Schülerinnen und Schüler in die Leistungsfindung mit ein.

Wie ist es nun aber speziell in Sport, Musik und Kunst, die Fächer, die in der Debatte stehen? Da geht vieles durcheinander. Die Fächer haben die Befürchtung, degradiert zu werden. Dabei stand die Abschaffung ALLER Noten in den Fächern nie zur Debatte, sondern nur der Noten, die vermeintlich das Talent bewerten. Es geht und ging um die Frage nach ganz bestimmten Ausprägungen des Notengebens, mit denen bestimmte Schülerinnen und Schüler ein richtiges Problem haben. Also der Weitsprung auf 3,46 m oder das Vorsingen auf Note im Musikunterricht. Kann man diese Noten überhaupt von anderen Noten unterscheiden?

Jantowski: Wir schreiben zum Beispiel dem Musiklehrer nicht vor, dass er das Singen eines Liedes vor der Klasse mit einer Note bewerten muss...

... es soll aber noch vorkommen …

Jantowski: Wir müssen unterscheiden zwischen Beurteilung und Bewertung. Die Beurteilung kann sein, dass die Lehrerin oder der Lehrer sagt: „Na ja, die Töne triffst du nicht richtig. Der Text war unsicher.“ Eine Bewertung wäre es dann, wenn er oder sie für dieses Lied, was da vorgetragen wurde, eine Ziffernnote vergibt.Musiklehrerinnen und Musiklehrer haben also durchaus die Möglichkeit zu sagen, dieses Kind hat seine Stärken in Notenlehre, hat seine Stärken im Erkennen von Rhythmus, von Melodie, aber eben nicht im Singen. Und da kann man – und sollte es auch – auf die Besonderheiten der Kinder und auf ihre individuellen Fähigkeiten auch geeignet Rücksicht nehmen.

Talent kann also an unterschiedlichen Stellen schlummern?

Jantowski: Wir messen Kompetenzen, wir messen nicht Talente, und wir messen auch keine Begabungen. Der Talent- und Begabungsbegriff ist erziehungswissenschaftlich wie psychologisch hoch umstritten, weil wir damit meist ein angeborenes Potenzial meinen. Und wenn ich jetzt mal in den Sport gehe und ein adipöses Kind als Beispiel nehme: Das ist weder ein Talent, noch ist das eine Begabung. Es ist ganz einfach ein Zuviel an Gewicht. Und wenn ich nun im Sportunterricht bewerte, ob dieses Kind den Bock-Sprung schafft oder nicht, und es vergleiche mit einem Kind, das sagt „Ich habe ja keine Lust, den Bock-Sprung zu machen“, gebe ich beiden Kindern die Note Sechs. Derjenige, der sich bemüht, aber es nicht schafft, sich aber anstrengt, und derjenige, der problemlos drüber käme, sich aber verweigert, erhielten beide die Note Sechs. Beide Male hat es nichts mit Talent zu tun. Es hätte vielleicht bei dem einen etwas mit Anstrengung und Motivationsbereitschaft zu tun und bei dem anderen etwas mit Übergewicht. Wir bewerten also in allen Fächern – und das betrifft nicht nur die drei von Ihnen genannten Fächer – erworbene Handlungsfähigkeiten, also Kompetenzen, und nicht irgendwelche Talente. Und genauso ist es in Kunst. Sie haben als Kunstlehrerin oder Kunstlehrer die Möglichkeit, wenn jemand nicht zeichnen kann, zum Beispiel Farbenlehre zu bewerten, Vorträge zu vergeben über Bauwerke. Und damit können Sie an die Stärken der Schüler anknüpfen, ohne die Schwächen andauernd in den Vordergrund zu rücken.

Das bedeutet, jemand, der unsportlich ist, kann auch eine Eins bekommen?

Jantowski: So einfach wird es in der Realität nicht sein. Wir haben ja einen Bezugsnormen-Mix. Wir orientieren uns auf der einen Seite an der kriterialen Bezugsnorm, also dem, was im Lehrplan steht. Und im Lehrplan steht zum Beispiel: „Der Schüler kennt die Regeln von Volleyball.“ Dann muss der Schüler die Regeln für Volleyball kennen. Der Schüler kann in der Leichtathletik bestimmte Normen erfüllen. Erfüllt er diese Normen, kann man die Eins bekommen. Erfüllt er diese Normen nicht, muss man schauen, wie man das gewichtet. Dann fragt man: Wie ist der individuelle Leistungsfortschritt des Schülers? Also hat er sich gesteigert, eventuell im 100-Meter-Lauf? Hat er sich bemüht? Hat er sich angestrengt? Hat er Hilfe in Anspruch genommen? All das muss ich dann abwägen. Um auf die Frage zurückzukommen: Ein Sportaffiner kann durchaus eine gute Note bekommen und ein Sportunaffiner auch, wenn er das Bemühen zeigt, sich in den Bereichen anzustrengen, die er kann und die er auch können müsste und sich entwickelt im positiven Sinne.

Nun sind die Schulen und auch die Lehrkräfte in Thüringen sehr vielfältig aufgestellt. Jeder macht seinen Unterricht anders, und das ist auch richtig und gut so. Pädagogische Freiheit ist ein hohes Gut. Trotzdem gibt es auch die berühmten Sporttabellen immer noch, und sie werden auch angewandt: Ab wann gibt es die Eins im Hochsprung? Ab wann gibt es sie in der Leichtathletik? Auch in Musik und Kunst und in allen anderen Fächern gibt es nicht immer die ideale Welt, die sie als Ziel beschrieben haben.

Jantowski: Um beim Beispiel Sport zu bleiben: Man sollte davon wegkommen, einzelne Noten allein auf isolierte normierte Leistungen zu vergeben. Das ist ganz eindeutig so. Man sollte sich zwar an gewissen Kriterien orientieren. Für die Klasse vier ist das im Weitsprung vielleicht – ich nehme jetzt eine imaginäre Zahl – eine Weite von 1,50 Meter. Daran sollte man sich orientieren. Aber man sollte nicht sagen, der, der die 1,50 Meter nicht schafft kriegt eine Vier oder eine Sechs. Die Weitsprung-Tabelle wird einfach der Individualität des Kindes nicht mehr gerecht. Wieder als Beispiel: Ein Kind bemüht sich und springt bei einer anvisierten Weite von 1,50 Meter stattdessen 1,30 Meter. Er hat die Bezugsnorm nicht erfüllt, hat sich aber bemüht, angestrengt und hat sich vielleicht noch zum Gespött der Klasse gemacht. Wenn Sie dem jetzt eine Note Sechs geben, was haben Sie pädagogisch erreicht?

Wir sind keine Arithmetiker, wir sind Pädagogen.

Pädagogisch haben Sie erreicht, dass Sie dem Kind deutlich gemacht haben: „Du kannst es nicht.“ Was denkt sich nun das Kind? „Beim nächstes Mal bleibe ich lieber sitzen. Da mache ich mich ja nicht noch mal zum Gespött. Ich kann es ja eh nicht.“ Diese Kind haben sie nicht in Bewegung gebracht, sondern in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Wir halten fest: Die Tabellen in Sport sind ein Auslaufmodell?

Jantowski: Alle Tabellen sind Auslaufmodelle, und wir müssen uns da gar nicht so auf diese Fächer fokussieren.

Die Diskussionen, die wir hier auf die Fächer Musik, Kunst und Sport herunterbrechen, gibt es in allen anderen Fächern genauso.

Was wissen Sie denn, wenn auf dem Zeugnis steht Deutsch Note Drei? Was wissen Sie über diesen Schüler? Sie wissen nichts. Er hat in Deutsch eine befriedigende Leistung. Also ist er überall so mittelmäßig oder hat er eine ganz schlechte Orthographie, aber einen brillanten Ausdruck? Kann der ganz toll interpretieren, oder überhaupt nicht? Was wissen Sie mit dieser Drei? Sie wissen nichts.

Wir wissen, dass es keine Eins ist.

Jantowski: Richtig, nach dem Ausschlussprinzip wissen wir, dass es keine Eins ist. Aber wenn wir dann noch die Information haben, auf welche Schule der Schüler gegangen ist, ist schon wieder der Aspekt der sozialen Bezugsnorm im Spiel: Also ein Schüler, der auf einer Schule A die und die Note erzielt, muss nicht auf der Schule B die gleiche Note erzielen. Die gleiche Diskussion gibt es ja um das Abitur mit diesen Bundesliga-Schubladen: Bayern gegen Bremen.

Das bringt uns zurück zum Ausgangspunkt, nämlich dem Ziel Kinder in Bewegung zu bringen. Übertragen auf alle Fächer: Wie können wir die Kinder motivieren, Leistung zu bringen? Wie motivieren wir? Was ist eigentlich Leistung im pädagogischen Sinne?

Jantowski: Über Motivation könnte man den ganzen Tag sprechen. Es gibt zahlreiche Motivationstheorien. Nehmen wir eine relativ eingängige Motivationstheorie von Edward Deci und Richard Ryan. Demnach gebe es gibt drei Faktoren, warum Menschen handeln: Der erste Faktor ist das Kompetenzerleben.

Wir handeln, damit wir uns selbst kompetent erleben.

Auf den Sportunterricht übertragen heißt das…

... “Ich kann das!“ …

Jantowski: … genau. Also sollte man doch dem Kind sagen: „Du erreichst zwar die Tabellen-Maße nicht, aber du hast dich im Gegensatz zu Letztens gesteigert. Das freut mich, und das erkenne ich auch an, und deinen Willen und die Anstrengung erkenne ich auch an.“ Wir wollen uns also kompetent erleben, ist das erste. Das zweite: Wir wollen uns autonom fühlen, also mitbestimmen. Für den Sportunterricht: Lassen wir doch dem Schüler oder der Schülerin die Wahl, ob er oder sie lieber Weitsprung machen will, Dreisprung oder Kugelstoßen. Stärken wir ihre Autonomie. Und die dritte Motivation, die wir alle verspüren: Wir wollen sozial eingebunden sein. Das heißt, wir streben danach, einer Gruppe zugehörig zu sein.

Das klingt nach einem größeren Spannungsfeld: Es gibt kein Entweder-oder, sondern für die letztliche Note müssen immer wieder Beurteilung, Bewertung, individuelle Lernleistung, Fairness und Rücksicht, die man auf den Schüler nimmt, neu austariert werden?

Jantowski: Ja. Dazu sind Lehrerinnen und Lehrer verpflichtet. Das ist unsere pädagogische Aufgabe und sollte unser pädagogischer Anspruch sein. Diesen Widerspruch trägt das System in sich. Einerseits vergeben wir mit einer Ziffernote Rangplätze. Wir selektieren. Wir sagen: „Du darfst aufs Gymnasium oder du darfst nicht aufs Gymnasium. Du bist ein Realschüler, du bist ein Gymnasiast, du bekommst das Abitur oder du bekommst es nicht, und Du bekommst es mit folgender Note.“ Die Note hat also eine gesellschaftliche Funktion. Dazu gehört die beschriebene Selektions- und Allokationsfunktion.

Und andererseits? Welche Funktionen haben Noten noch?

Jantowski: Andererseits hat die Note pädagogische Funktionen. Nämlich die pädagogische Funktion, den Schüler zu fordern und zu fördern. Sie hat eine Berichtsfunktion, also dem Schüler zu berichten, wie sein Leistungsfortschritt ist. Und die Note dient auch der Gestaltung des weiteren Unterrichts. Denn es wäre ja als Lehrer vollkommen falsch, im Unterricht einfach weiterzugehen, wenn ich merke, dass die Hälfte der Klasse das, was zu vermitteln war, nicht begriffen hat. Diese zwei Funktionen, individuelle Förderung auf der einen Seite und gesellschaftliche Standardorientierung auf der anderen Seite, die stehen sich diametral gegenüber. Und deswegen müssen Lehrerinnen und Lehrer dieses diametrale Verhältnis immer wieder versuchen auszugleichen. Dabei ist es kein Geheimnis, dass je stärker ein Schüler an eine abschlussbezogene Klasse heranrückt, desto stärker muss die kriteriale Bezugsnorm, also „man kann es oder man kann es nicht“, in den Vordergrund rücken. Ansonsten betrügen wir die Schülerinnen und Schüler um den Abschluss. Je stärker sich die Schülerinnen und Schüler aber von einer abschlussbezogenen Klasse entfernt finden, desto stärker muss die individuelle Bezugsnorm angewendet werden.

Das heißt, man achtet in den ersten Jahren der Schullaufbahn bei Schülerinnen und Schülern eher auf den individuellen Lernfortschritt, legt also stärker Wert auf Kompetenzerwerb, damit sie dann am Ende ihrer Schullaufbahn das, was man althergebracht als Leistung bezeichnen würde, abliefern können?

Jantowski: Ja, am Schluss zielt alles auf den Abschluss. Thüringen macht das par excellence. In den ersten beiden Schuljahren gibt es keine Noten. Die Schülerinnen und Schüler befinden sich weit weg von einer abschlussbezogenen Klasse, und demzufolge stehen individuelle Lernfortschritte, leicht kombiniert mit der kriterialen Bezugsnorm, absolut im Mittelpunkt. Es müssen auch Lernergebnisse da sein, aber sie werden nicht bewertet, sie werden nur beurteilt, und zwar verbal, mit Aufklebern, mit Smileys oder etwas anderem. Aber bereits dort bemerken wir den Trend, dass Eltern in Eltern-Gesprächen fragen: „Smiley schön und gut, aber was wäre denn das jetzt für eine Note?”

Was sagen Sie denn Eltern, die sagen: „Mein Kind braucht diese Note, damit es motiviert ist“? Oder zum Beispiel der Jugendsportlerin, die quasi alles kann im Sport, oder dem Musikenthusiasten, der schon jahrelang in die Musikschule geht, bei „Jugend musiziert“ mitmacht und der einfach brilliert in diesem Fach. Anderes Beispiel: das MINT-Genie. Es geht um die Schülerinnen und Schüler, die einfach Paradefächer haben, weil es ihren Interessen entspricht. Was sagen Sie denen?

Jantowski: Gegenfrage:

Wenn Sie eine Gehaltserhöhung bekommen, wie lange freuen Sie sich darüber?

Sie freuen sich ein oder zwei Monate darüber und dann ist das für Sie normal. Und genauso ist es mit den Noten. Der gute Schüler, der freut sich mal über die fünfzehn Punkte am Gymnasium oder die Eins. Wenn er aber nur Einsen bekommt, dann ist der Motivationseffekt weg. Denn der Neuigkeitswert ist weg. Es gibt extrinsische und intrinsische Motivation. Die extrinsische wird zum Beispiel durch Noten belohnt. Bei Schülerinnen und Schülern, denen Sie die Belohnung aus objektiven Gründen nicht geben können, die Sie mit Noten zumeist eher beschämen, hat das aber genau die gegenteilige Wirkung, nämlich eine Demotivation. Ich mache das mal an einem Beispiel aus dem Deutschunterricht fest: Ein Schüler schreibt am Anfang der Klassenstufe 5 einhundert Fehler im Diktat. In Orthografie ist das eine Sechs. Der Schüler übt und übt und übt, und am Ende der Klassenstufe 5 schreibt er im Diktat nochfünfzig Fehler. Das ist wieder die Sechs. Er übt und übt und übt, was motivationstheoretisch eigentlich gar nicht mehr vorstellbar ist. Er holt sich also Vorträge, schreibt Texte, ist eifrig – und schreibt am Ende der Klassenstufe 6, also nach zwei Jahren, fünfundzwanzig Fehler, und es ist immer noch die Note Sechs. Was hat der Schüler gelernt? Du kannst machen, was du willst, es wird nicht besser.

Deshalb messe ich der Motivationsfunktion von Noten eine sehr geringe Bedeutung zu.

Was motiviert stattdessen?

Jantowski: Wenn wir über extrinsische Motivation sprechen, dann führt kein Weg an der authentischen verbalen Lehrerrückmeldung vorbei. Denn ich weiß selbst als Lehrer, wenn ich unter eine Arbeit geschrieben habe: “Eine hervorragende Leistung. Habe mich sehr gefreut!” – dann wirkt das sehr viel mehr als diese fünfzehn Punkte oder die Eins.

Also eine gute Lehrerin motiviert ihre Schülerinnen und Schüler nicht, indem sie Noten verteilt, sondern indem sie Rückmeldung gibt.

Jantowski: Ja, Rückmeldung und Feedback sind extrem wichtig. Eine gute Lehrerin erreicht ihre Schülerinnen und Schüler vor allem über die intrinsische Motivation. Intrinsische Motivation bedeutet, ich sehe Sinn in dem, was ich tue. Ich erfahre Autonomie, in dem, was ich tue. Soziale Eingebundenheit in der Gruppe, also die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, ist für die Motivation ebenfalls viel, viel wichtiger als die Note.

Lassen Sie uns gerne noch ein konkretes Beispiel aus dem Musikunterricht diskutieren. In Ostdeutschland sind viele Menschen wie selbstverständlich damit aufgewachsen, im Musikunterricht auf Note vor der Klasse vorzusingen oder vorzuspielen, also mit der klassischen Musik-Leistungskontrolle. Und im Westen erntet man, wenn man davon berichtet, offene Münder, weil das offensichtlich seit Jahrzehnten dort völlig außerhalb der Vorstellung liegt, dass man im Musikunterricht Noten auf diese Art und Weise vergibt.

Jantowski: Ich kann nicht ausschließen, dass das in Thüringen noch gemacht wird. Es ist auch nicht unbedingt falsch bei Schülern, die es können.

Lassen wir den Kindern doch die Wahl. Sie sind doch Fachmänner und -frauen für ihre eigene Leistung.

Sagen wir doch lieber: Jedes Kind, das das möchte, kann ein Lied vor der Klasse vortragen. Und Sie werden sehen, insbesondere in der Grundschule wird es sehr viele Kinder geben, die das wollen. Aber sobald die Pubertät einsetzt und die damit verbundenen Veränderungen, wollen das nicht mehr so viele. Und dann kann doch an die Stelle des Liedvortragens auch etwas anderes rücken: Erkennen einer Musik, Erkennen einer Tonfolge, Mitschlagen eines Rhythmus’, Begleitung des vortragenden Sängers mit einem Instrument. Es gibt da viele Möglichkeiten, übrigens auch fächerübergreifend. In Mathe einen Rap zur trigonometrischen Beziehung zu machen, auch das kann lernunterstützend wirken. Also, ich will das Singen nicht verteufeln.

Und in Kunst? Wenn ich den Auftrag bekomme, ein Stillleben abzuliefern, in der sechsten Klasse oder in der siebten, darf oder sollte der Lehrer das benoten?

Jantowski: Ja, er darf es benoten. Aber auch hier kann ich dieser Schülerin Autonomie geben. Das heißt, ich kann ein Stillleben zeichnen, ich kann ein Stillleben plastisch formen, ich kann ein Stillleben kleben, ich kann ein Stillleben fotografieren und mit Photoshop bearbeiten. Warum denn nicht? Forderung ist okay.

Makarenko hat sinnbildlich gesagt: „Ich achte dich, deswegen fordere ich etwas von dir.“

Aber was es zusätzlich geben muss, ist (a) Hilfestellung, (b) Anregungen und (c) der Mut, verschiedene Arten der Lösung zuzulassen (kognitive Aktivierung).

Wie kann es jetzt in Thüringen weitergehen in dieser Debatte? Minister Holter hat gesagt, er möchte gerne bis zum Ende der Legislatur Veränderungen erwirken, die die Motivation stärken. Was können wir konkret tun?

Jantowski: Ich bin sehr dankbar, dass wir diese Diskussion führen und dass Minister Holter diese Diskussion angestoßen hat. Auch dass sie auf Anhieb so polarisiert hat, ist nicht per se schlecht. Mentale Modelle ändert man entweder sehr langwierig oder schockierend. Jetzt diskutieren wir enthusiastisch, und nun muss sich das auch in der Lehrerschaft herumsprechen, und die Veränderung, die weiterentwickelte Sichtweise auf die Benotungspraxis, muss implementiert werden. Wir müssen weg von dem physikalischen Begriff der Leistung, weg von der Vorstellung, dass Leistung Arbeit geteilt durch Zeit ist. Das ist Physik. Der Mensch besteht aber nur zu einem Teil aus physischen Prozessen. Der andere Teil sind die psychischen Prozesse. Die sind wesentlich komplizierter.

Wir müssen uns darüber verständigen und diese Diskussion muss jede Schule innerhalb des Kollegiums führen: Was ist für uns hier Leistung?

Das ist das erste.

Und das Zweite?

Jantowski: Das zweite ist die Debatte darüber, welche Dimensionen Leistung umfasst? Verstehe ich Leistung nur als das fertige Produkt, also nur die Leistungskontrolle, nur die Klassenarbeit? Oder umfasst Leistung für mich nicht viel mehr, nämlich den Prozess? Wie kommt der Schüler dahin? Wie hat er zum Beispiel einen mündlichen Vortrag vorbereitet? Wie sieht sein Stichpunktzettel aus? Welche Medien setzt er unterstützend ein etc.?

Also umfasst die Leistung für mich Prozess, Produkt und Präsentation.

Das haben wir übrigens in Thüringen im Seminarfach ebenfalls par excellence gelöst. Dort haben wir diesen Dreiklang aus Prozess, Produkt und Präsentation. Das Dritte ist, zu diskutieren, in welchem Verhältnis kriteriale Bezugsnormen, also richtig und falsch, zu individuellen Bezugsnormen stehen. Also wie hat sich die Leistung des Schülers oder der Schülerin n der Vergangenheit bis heute entwickelt? Wir müssen dieses Verhältnis zwischen kriterialer und individueller Bezugsnorm austarieren. Wir müssen mit den Lehrern einüben, wie tariere ich das diametrale Verhältnis von gesellschaftlichen Funktionen von Noten und pädagogischen Funktionen von Noten in meinem pädagogischen Beurteilungsspielraum geschickt aus? Und das vorerst Letzte, was wir tun müssen, ist, den Lehrern zu zeigen, dass es andere Formen der Beurteilung von Leistung gibt, die viel aussagekräftiger sind als Noten, wie zum Beispiel verbale Rückmeldungen.

Um es noch einmal festzuhalten: Die Abschaffung von Noten steht also aktuell nicht zur Debatte.

Jantowski: Wir brauchen sie noch eine Zeit lang, davon bin ich überzeugt, für die anderen. Und mit den anderen meine ich Schülerinnen und Schüler, Eltern, Arbeitgeber.

Wo finden Lehrkräfte, die sich mit dem Thema eingehender beschäftigen möchten, Informationen und Hilfestellung?

Jantowski: Leistungsbewertung im Unterricht nimmt einen breiten Raum auch im Fortbildungsbereich des ThILLM ein. Ich bin oft selbst an Schulen unterwegs und arbeite mit den Kollegien daran, wie sie die Leistungsbewertung an der Schule besser, also zum Beispiel transparenter und individueller machen können.

Und was können Eltern tun, die das Gefühl haben, sie müssten mit einer Lehrkraft genau über dieses Thema reden und vielleicht auch Veränderung anstoßen?

Jantowski: Eltern sollten immer das Gespräch mit der Lehrkraft suchen. Erst wenn diese Situation so verfahren ist, dass es gar nicht mehr geht, sollte man das Gespräch mit dem Schulleiter suchen. Aber ich bin immer ein Verfechter des persönlichen Gesprächs mit den Betroffenen.

Notengebung ist ein höchst pädagogischer, individueller Akt.

Wird am Ende die Debatte den Fächern Sport, Musik und Kunst sogar nutzen statt dass sie, wie von den Vertreterinnen und Vertretern der Fächer befürchtet, darunter leiden?

Jantowski: All die verschiedenen Leistungsvergleichsuntersuchungen der letzten Jahre, von PISA bis zu -Kompetenz-Tests, haben bewirkt, dass in den Schulen oftmals vor allem für den Test gelernt wird, damit also in dem Test gut abgeschnitten wird. Das ist aber gar nicht Sinn und Zweck dieser Vergleiche. Trotzdem haben die dort getesteten Fächer mehr und mehr Bedeutung bekommen: Deutsch, Mathematik, erste Fremdsprache, Naturwissenschaften. Was oft hinten heruntergefallen ist, sind die Fächer, die nicht getestet werden. Über die hat kaum jemand gesprochen. Durch unsere Debatte jetzt spielen diese Fächer in der öffentlichen Wahrnehmung wieder eine Rolle. Und wenn man das jetzt wirklich nutzt, um die Qualität nach vorne zu bringen, dann hat man damit einen Mehrwert erreicht und die Fächer gestärkt.

Welche Rolle in unserer vom Ziel her humanistisch ausgerichteten Bildung spielen denn das Bewegungselement des Sports, das musische Element der Musik, das kreative Element der Kunst? Welchen Wert haben diese Fächer für Sie?

Jantowski: Für mich haben diese Fächer einen sehr, sehr hohen Stellenwert. Wir sind ästhetische Menschen, wir sind Kulturwesen. Wir erfreuen uns an artifiziellen Produkten, die der Mensch geschaffen hat. Wie viele Menschen wurden schon durch das Lächeln der Mona Lisa bezaubert? Also, da kann ich nur sagen Kunst ist Problemlösefach, indem es Kreativität schult. Musik ist Problemlösefach, indem es ebenso Kreativität schult, aber uns eben auch beispielsweise ein Rhythmusgefühl vermittelt. In der Musik lernen Sie zum Beispiel, in der Gemeinschaft zu singen und zu musizieren, also miteinander in Schwingung, in Resonanz zu kommen. Das heißt, es prägt die soziale Gemeinschaft und die Sozialkompetenz enorm. Und wenn wir Sport nehmen: Sport macht Freude. Wenn Sie sich bewegen, haben Sie immer Freude.

Daher sollten wir das Lernen eigentlich immer mit Bewegung koppeln, denn dann macht Lernen Freude.

Bewegung ist aber nicht nur aus psychischer Sicht wichtig. Wir wissen, dass sich durch Bewegung die Physiologie verbessert. Auch der Metabolismus verbessert sich, die Merkfähigkeit verbessert sich, weil Inhalte ganz anders codiert, also im Gehirn gespeichert werden. Sie werden nicht nur kognitiv codiert, sondern auch motorisch codiert, und dadurch haben wir eine Mehrfach-Codierung. Wir haben also besser gelernt. Das heißt auch Sport hat ein Kreativpotenzial. Deshalb kann man diese drei Bereiche in meinen Augen gar nicht hoch genug ansiedeln.

Herr Jantowski, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Felix Knothe, Pressesprecher des Thüringer Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport.

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